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Vor dem Gericht der öffentlichen Meinung genügt oft schon ein Verdacht, um Schuld zu vermitteln. Mentaten denken nicht in dieser Weise. Wir stellen Fragen.
Das Mentaten-Handbuch
Weil so viele Menschen in der demolierten Barackenstadt von Arrakeen inoffizielle Einwanderer waren, die keine Papiere, keine Arbeit und keine Familie hatten, war es unmöglich, die Gesamtzahl der bei der Sandwurmattacke Getöteten zu ermitteln.
Arbeiter, ehemalige Soldaten, Pilger und Bettler machten sich sofort an die Wiederaufbauarbeiten und schufteten unermüdlich, weil Alia sie in Muad'dibs Namen dazu aufgefordert hatte. Stilgar fand, dass die Bitte der Regentin einen ungeduldigen Unterton gehabt hatte. Obwohl es kein schöner Gedanke war, glaubte er, dass sie all die vielen Arbeiter nicht etwa zusammengerufen hatte, um den Leidenden zu helfen, sondern weil sie den Schlamassel so schnell wie möglich beseitigen wollte.
Unterdessen verkündete das Qizarat freudig, dass alle, die der wilde Wurm verschlungen hatte, sofort in den Himmel gekommen und Teil von Shai-Hulud geworden waren. Es überraschte Stilgar nicht, das zu hören.
Trotz der Zerstörung war er froh, dass nicht noch größerer Schaden angerichtet worden war. Der wilde Wurm hätte sich durchaus einen Weg bis zur Zitadelle Muad'dibs bahnen können, doch Stilgar hatte ihn rechtzeitig umgelenkt. Früher oder später würde ihm Alia wahrscheinlich einen Orden für seine Tat verleihen, doch er hatte keine Zeit für Tand und Festlichkeiten. Stattdessen war er fest entschlossen, in Erfahrung zu bringen, wer für die Katastrophe verantwortlich war. Er hatte sein ganzes Leben damit verbracht, die Wüste und die majestätischen Würmer zu verstehen. In seinem Herzen wusste er, dass das kein Unfall gewesen war.
Stilgar stellte ein handverlesenes Team aus Sandläufern und Wurmreitern zusammen. Es waren Wüstenmänner, die die geflüsterten Geheimnisse der Dünen erspüren konnten, die die Zeichen deuteten, ehe die Winde sie auslöschten. Sein unerbittlicher Trupp begab sich zur Bresche im Schildwall und durchkämmte den Schauplatz des Geschehens.
Stilgar stand am zerstörten Qanat und nahm für einen kurzen Moment seine Nasenstöpsel heraus, um die Atmosphäre um sich herum besser aufzunehmen. Er blickte sich um und versuchte, Hinweise zu finden. Draußen in der offenen Wüste hatte er acht Späher stationiert, die nach weiteren Würmern Ausschau halten sollten. Er drehte sich herum, ließ den Blick schweifen und spürte auf den bloßen Wangen das Stechen der Sandkörner, die von den pfeifenden Böen am Schildwall herangeweht wurden. Cueshma, dachte er, das Fremen-Wort für einen Wind mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Stundenkilometern, der stark genug war, den Wüstensand aufzustören, aber zu schwach, um als Sturm bezeichnet zu werden.
Doch außer dem Wind war die Wüste still und behielt ihre Geheimnisse für sich. Er verstand nicht, was das Tier überhaupt hierhergelockt hatte, warum es die Feuchtigkeitssperre überwunden und so zielstrebig Arrakeen angegriffen hatte. Was konnte es zu einem so unberechenbaren, unnatürlichen Verhalten getrieben haben?
Seine Männer gruben den Sand um und zogen Plazbetonbrocken der Kanalmauern hervor. Der Wurm hatte einen Großteil des Beweismaterials zerstört, aber das hielt die Fremen nicht von der Suche ab. Mehrere Männer stachen an weit auseinanderliegenden Stellen mit Stangen in den Sand und trieben ihre Sonden tief genug hinab, um jeden messbaren Rest von Feuchtigkeit aufzuspüren.
Schließlich berichtete der Hauptmann: »Es ist trocken, Stil.«
»Wenn der Qanat voll war, als der Wurm ihn zertrümmert hat, gäbe es in der Tiefe noch Wasser. Der Großteil des Stroms wurde vorher umgeleitet. Man hat das Wasser abgelassen. Den Rest werden sich die Sandforellen geholt haben«, erklärte Stilgar. Kein Unfall. Jemand wollte, dass der Wurm ins Becken gelangte.
Er drehte sich um und ließ den Blick über die beeindruckende Gebirgsbarriere streifen, die alle sich nähernden Würmer abhielt. Vor Jahren, bei der Schlacht von Arrakeen, hatte der Padischah-Imperator seine Truppen im Becken stationiert. Er hatte angenommen, dass sie dort sicher waren, und nicht damit gerechnet, dass Muad'dib sich mit Atomwaffen durch die Felswand sprengen würde, was es seinen Fedaykin ermöglichte, auf Würmern in die Schlacht zu reiten. Das war der Wendepunkt der neueren Geschichte gewesen. Doch damals waren die Geschöpfe absichtlich von erfahrenen Wurmreitern durch die Bresche gelenkt worden. Wie war ein einzelner Wurm durchs Nadelöhr geschlüpft und in den geschützten Bereich eingedrungen? Selbst wenn der Qanat ausgetrocknet war, wie hatte die augenlose Kreatur die relativ kleine Öffnung finden können?
Stilgar war nicht überrascht, als seine Männer die Überreste eines Klopfers entdeckten. Das ließ vermuten, dass es vielleicht noch mehr davon gab, die wie Brotkrumen eine Spur gebildet hatten, um das Geschöpf weiterzulocken. Der unentwegte, pulsierende Rhythmus hatte den Wurm wahrscheinlich wie ein Magnet angezogen und durch die Bresche gelockt.
»Verrat«, brummte einer der Fedaykin. »Man hat Shai-Hulud mit Absicht gerufen.«
Das hatte Stilgar auch schon vermutet. Aber wer?
Einer der Männer hielt einen verbogenen Klumpen Metall hoch. »Seht euch mal die ungewöhnliche Herstellung dieses Klopfers an. Für mich sieht das wie ixianische Technologie aus. Bronso von Ix!«
Der Naib zog eine finstere Miene. »Dafür ist ein Klopfer noch kein Beweis.« Diese Geräte mit dem Uhrwerksmechanismus und dem metronomischen Stampfer waren recht simpel aufgebaut. »Man muss kein ixianischer Spezialist sein, um so etwas herzustellen.«
Unter der hellen Sonne und der steifen, sandigen Brise fuhr Stilgars Suchtrupp fort, den Sand nach Hinweisen abzusuchen. Gegen Abend legten sie die durchgebrannten Schaltkreise eines Schildgenerators frei, und etwas weiter unten fanden sie einen weiteren. Erneut ließen einige ihrer Entdeckungen auf ixianische Technologie schließen, was vielleicht auf Bronso hindeutete ... obwohl man Schildgeneratoren überall kaufen konnte.
Schilde trieben einen Wurm zur Raserei. Immer. Die Klopfer hatten ihn zu den Überresten des Qanats gelockt, und dort hatten die versteckten Schildgeneratoren ihn ins Becken von Arrakeen getrieben. Jemand hatte die Verwüstung mit Absicht angerichtet.
Er wusste, warum die Männer so schnell zu dem Schluss kamen, dass Bronso verantwortlich war. Alia hatte ihren Verdacht bereits ausgesprochen, und die Schuld des Ixianers würde zu ihrer Zufriedenheit erwiesen werden, auf die eine oder andere Art.